Kinder & Schule – Wer ist hier gestört?
Ich kenne auch viele Fälle, wo die Eltern alles richtig machen: Sie lieben ihre Kinder, sie fördern sie, sie gehen achtsam mit ihnen um, sie setzen liebevoll Grenzen, sie sind ein angstfreies Vorbild, haben Zeit für die Kinder, lassen sie nicht alleine usw. Sie spüren tief in ihrem Herzen, was dem Kind gut tut und was nicht. Sie gehen darauf ein, wenn ihr Kind Bedürfnisse oder Kümmernisse mitteilt.
Dann treffen diese Eltern im Kindergarten oder in der Schule auf Pädagogen, die das ganz anders sehen. Das Kind soll getrimmt werden und sich dem System anpassen. Wenn sich das Kind quer stellt, dann sollen die Eltern Maßnahmen ergreifen, die das Kind dazu bringen sollen. Wenn das Kind auffällt und anders ist, dann ist es krank oder gestört. Oder sie hören von wohlmeinenden Verwandten oder Freunden, dass ihre Kinder seltsam seien, dass ihre Erziehungsmethoden zu lasch seien, dass da nie etwas draus wird und „uns hat das auch nicht geschadet“. Wenn die Eltern sich trotzdem nicht beirren lassen, ziehen die solche Freunde und Verwandte zurück und meiden den Kontakt.
Jetzt haben solche Eltern oft mit einer anderen Art von Unsicherheit zu kämpfen, nämlich mit der Frage: Wer ist hier gestört? Wir, das Kind oder die Anderen?
Ich versichere in solchen Fällen: Die Anderen sind gestört. Wir Menschen sind aber soziale Wesen, das bedeutet, dass wir immer beobachten, ob unsere Handlungen akzeptiert werden, damit wir dazugehören können. Wenn wir dann bemerken, dass unsere Handlungen missbilligt werden, womöglich von mehreren Seiten, dann werden wir unsicher. Das ist ganz normal. Wenn wir aber in einer Gesellschaft leben, die lebensfeindlich geworden ist, dann ist es wichtig, dem Drang zu widerstehen, dazugehören zu wollen. Denn wie sonst soll sich eine Gesellschaft verbessern, wenn nicht durch Menschen, die den Mut haben, es anders zu machen.
Im Umgang mit dem Schulsystem kann das eine echte Herausforderung werden. Das Kind erzählt, dass die Lehrerin vor der Klasse gesagt hat, es sei zu dumm. Das darf man als Eltern nicht hinnehmen. Die Lehrerin beschwert sich über das Kind, dass es Fehler in den Hausaufgaben habe und die Eltern sollten das besser kontrollieren. Die Eltern müssen sich klar machen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, Hausaufgaben zu verbessern. Eltern merken, dass ihr Kind in der Grundschule jeden Tag 2 Stunden an den Hausaufgaben sitzt. Das Kind kommt nicht mehr zum Spielen. Spielen ist aber wichtig. Also muss man sein Kind beschützen.
Es hilft dabei, sich daran zu erinnern, dass Lehrer/innen auch nur ehemalige Kinder sind, die möglicherweise unter ungünstigen Bedingungen groß geworden sind. Dass Lehrer/innen auch gezwungen werden, sich in ein krank machendes Schulsystem einzuordnen. Dass Lehrer/innen nach bestem Wissen handeln oder eben unbewusst und automatisch wie alle Menschen. Gleichzeitig ist klar: das Kind ist ausgeliefert und muss geschützt werden. Die Bedürfnisse des Kindes gehen vor. Man darf das den Kindern auch sagen, damit sie nicht denken, sie seien gestört. Gute Ideen sind hier gefragt. Vielleicht hilft ein freundliches Gespräch mit der Lehrerin, dem Lehrer, vielleicht eine List gegenüber der Schule, vielleicht eine Vereinbarung mit dem Kind oder am besten alles zusammen. Was nach meiner Erfahrung nicht hilft, ist darauf zu hoffen, dass andere Eltern sich solidarisieren und gemeinsam etwas unternehmen.
Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker
Zum Weiterlesen:
Franz-Josef Neffe „Die neue Ich-kann-Schule“