Wir sind alle große Kinder
Die Kindheit ist eine schwere Zeit, bei vielen die schwerste Zeit im Leben. In meiner Praxis höre ich häufig die Geschichten von gequälten, vernachlässigten Kindern, die die Patienten früher gewesen sind. Viele dachten „es ist vorbei“, doch solange sie nicht wirklich gefühlt und anerkannt haben, was geschehen ist, bleiben die krankmachenden Folgen gespeichert.
Erst kürzlich erlebte ich eine Situation, die gut veranschaulicht, was sich abspielt.
Eine 7 Jahre junge fröhliche aufgeweckte kleine Dame hängt an meinem Ausschnitt, ihr Gesicht lacht, aber ihre Hände haben sich festgekrallt, so dass ich sie nicht loslösen kann und sie mir fast das Kleid zerreißt. Der Vater greift ein, sie fügt sich. Was war los? Zwischen uns war vorher alles in Ordnung gewesen. Zufällig hatte ich beobachtet, wie sich eine ähnliche Szene zwischen ihr und ihrem großen Bruder ereignete. Sie saß auf seiner Schulter, riss an seinem Kopf herum, bis er sie schimpfend wieder absetzte. Danach verkroch sie sich unter dem Tisch und wirkte sehr traurig. Was war los? Zwischen den beiden gab es vorher keinen Konflikt. Zufällig hatte ich beobachtet, dass sie davor von ihrem Vater mehrfach streng ermahnt worden war, sie solle den Daumen aus dem Mund nehmen, an dem sie lutschte. Sie wirkte bedrückt und der Daumen wanderte automatisch immer wieder in ihrem Mund. Komisch, zuvor hatte ich sie nicht am Daumen lutschen sehen. Was war los? Zufällig hatte ich beobachtet, dass sie zuvor von ihrem Vater einen Klaps bekommen hatte, weil sie in der Nase gebohrt hatte. Danach war sie eine Zeitlang ganz in sich versunken und wollte nicht mehr reden. Sie wirkte sehr traurig und schockiert. Zufällig hatte ich beobachtet, wie sie sich davor an ihren geliebte Papa gehängt hatte, als sie ihn wieder sah, nachdem er eine Zeitlang woanders gewesen war.
An diesem einfachen Beispiel kann man sehr gut erkennen, wie negative kindliche Erfahrungen gespeichert werden. Meistens bekommen wir nur einen Bruchteil von dem mit, was passiert, deswegen fand ich es so lehrreich, einmal alle Sequenzen im Original zu beobachten. Das Kind erlebt alles. Es erlebt, dass der geliebte Mensch straft und Schmerz zufügt, hier weniger körperlichen als seelischen Schmerz. (Welcher Erwachsene wollte von seinem Chef einen Klaps bekommen?) Das Kind erlebt einen Schock, Wut und Traurigkeit. Alles erzeugt nervliche und chemische Reaktionen im Körper sowie muskuläre Spannungen, die nicht ausgedrückt werden können, weil es dem Kind verboten ist, auf seine Eltern wütend zu sein und sich zu wehren. Das Kind glaubt, die Eltern hätten Recht und es Unrecht, denn ihm wird das ja so erklärt. Das Kind denkt in seiner kleinen Welt: „ich bin schlecht und verdiene das, weil ich in der Nase gebohrt habe“ Die Verspannungen bleiben also bestehen und sorgen für weitere Konflikte und Enttäuschungen. Das geht solange, bis das Kind alt genug ist, um sein Verhalten besser kontrollieren zu können. Die Anspannung bleibt aber bestehen. Die Idee bleibt bestehen „ich bin schlecht“. Das Kind wird nie erfahren, dass es total in Ordnung ist, dass es eben nur nicht so gut aussieht, wenn es in der Nase bohrt. Niemand wird dem Kind erklären, dass es eigentlich die Aufgabe der Erwachsenen ist, dem Kind liebevoll beizustehen, sich das abzugewöhnen durch Aufmerksam machen und Erinnern und Loben, wenn es klappt.
Das kleine Mädchen hatte wegen dieser unscheinbaren Sache sichtlichen Kummer erlebt. Wie schlimm sind dann erst die schwereren Misshandlungen der Kinder wie Vernachlässigungen aller Art, Bestrafungen, Gewalterfahrungen, Ausbeutung und Missbrauch. Zu körperlicher Gewalt gehören alle „Ohrfeigen“, „Kopfnüsse“, Zwicken, Schubsen, mit Gegenständen bewerfen, Einsperren usw. Psychische Gewalt ist beschimpfen, beleidigen, herabsetzen, in seiner Würde verletzen, Drohen, Erpressen, nicht mehr sprechen usw. Hat es ihnen nicht geschadet? Oh doch, es hat. Je jünger das Kind war, umso mehr. Der frühere Lehrsatz „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ und die Struwelpeter-Pädagogik haben großen Schaden angerichtet bis heute.
Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker