Schule und kein Ende der Plackerei
Was lernen Kinder eigentlich in der Schule? Ich habe mich das in letzter Zeit häufiger gefragt. Es wird ja viel darüber geschrieben, dass es immer mehr ADHS-Kinder gäbe und immer mehr übergewichtige Kinder und immer mehr Kinder, die psychotherapeutischer Behandlung bedürfen.
Kinder sind doch so ein Bündel an sprudelnder Fröhlichkeit und Energie? Kinder freuen sich auf die Schule, sie wollen lernen, sie fragen den Eltern Löcher in den Bauch, sie wollen alles ausprobieren. Wohin verschwindet das alles? Eltern berichten mir von den anstrengenden Nachmittagen mit der Hausaufgabenbetreuung, von schulunwilligen Kindern, von Gesprächen mit Lehrern, dass das Kind nicht normal sei, von Streits zwischen den Eltern deswegen. Was passiert da? Die Eltern hatten sich einmal über ihre Kinder gefreut, es ist doch ein großes Glück, diese zarten Wesen begleiten zu können. Und jetzt? Stress! „Die Schule hat angefangen.“
Ich möchte es einmal so betrachten. In der Schule wird hauptsächlich gesessen. Möglichst wenig Bewegung ist gefordert, möglichst wenig Initiative, möglichst wenig spontanen Impulsen folgen, möglichst wenig reden, möglichst wenig selbst machen. Vielleicht nach Vorgaben der Lehrerin darf sich bewegt werden oder gesprochen oder gedacht werden. Sonst bitte nicht. Was ist aber mit der ganzen Energie, die sich in diesen lebendigen, spontanen, neugierigen, überschäumenden jungen Wesen bewegt? Wo soll sie hin? Sie muss unterdrückt ja werden, kanalysiert werden, woanders rausgelassen werden, hinuntergeschluckt werden, weggeträumt werden. Das kann nicht gut gehen. Was lernen Kinder hauptsächlich demnach: „Ich muss still halten, solange mich jemand beobachtet. Dann muss ich die Sau rauslassen, weil ich sonst verrückt werde.“ Diagnose: ADHS. Oder das Kind lernt: „Ich muss still halten und damit ich es aushalte, schalte ich mich ab und die Gamestation ein.“ Diagnose: ADS. Oder: „Essen hilft, dass alles drin bleibt, was sonst raus will.“ Diagnose: „Übergewicht“. Oder „Schule ist blöd, ich will da nicht mehr hin“ Diagnose: Schulverweigerer. Oder „Ich bin zu dumm, ich kann das nicht.“ Diagnose: Schulversagen.
Ich beobachtete im Zug eine Mutter mit einem Kleinkind und einer etwa 6-jährigen Tochter. Die Tochter sollte still neben ihr sitzen. Sie wollte aber aufstehen. „Aber nur aufstehen, nicht herumgehen“, war die Anweisung der Mutter. Die Tochter fing an, etwas hin und her zu gehen. „Aber nicht so weit weg“! Die Tochter ging weiter weg, sie rannte oder hüpfte ein wenig. Die Mutter fing an zu schimpfen, „jetzt komme her und bleib bei mir“. Sie holte die Tochter auf ihren Schoß. Dort krümmte sie sich und wollte auf den Boden rutschen. Das Mädchen konnte sich sichtlich kaum noch beherrschen, es litt unter der verordneten Bewegungseinschränkung wie ein Tiger im Käfig. Ich kam mit der Mutter ins Gespräch. Seit 8 Stunden waren sie schon unterwegs mit der Bahn! Fahrgäste hätten sich beschwert über ihre Tochter, weil sie so unruhig sei. Deswegen die Ermahnungen. Meine Güte, dabei ist doch Bahnfahren gerade deswegen bei Kindern so beliebt, weil sie sich da mehr bewegen können als im Auto.
Wenn ein Kind die Schule erfolgreich abschließt, hat es gelernt: „wenn ich mich beherrsche, meine spontanen Bedürfnisse unterdrücke und immer so schnell wie möglich erfasse, was die Erwachsenen von mir wollen, dann bekomme ich Anerkennung“. Das Kind denkt „wenn ich dann erwachsen bin, kann ich endlich machen, was ich will.“ Aber leider ist es dann zu spät. Denn das Gelernte steuert automatisiert die Gedanken und Handlungen. Das Kind wird sich weiter beherrschen und anpassen und unterdrücken und es wird damit erfolgreich sein. Denn solche Kinder sind gefragt in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Politik. Sie sind erfolgreich, aber nicht froh. Sie sind anerkannt, aber es ist nie genug.
Die Kinder, die in der Schule nicht erfolgreich waren und keine Anerkennung bekamen, die haben gelernt: „Ich bin dumm. Niemand mag mich. Ich habe nichts zu bieten, was irgendjemanden interessiert.“ Sie werden sich zur Arbeit widerwillig zwingen, wie zur Schule. Aber nach Feierabend werden sie schnelle Autos fahren oder konsumieren oder Süchten frönen, alles was sie früher schon irgendwie getröstet hatte. Sie werden etwas Spaß haben, aber nicht froh sein.
Ich gebe zu, dass das etwas plakativ ist. Natürlich gibt es andere Varianten. Ich hoffe aber, dass ich so ein gesellschaftliches Grundproblem darstellen konnte, mit dem Kinder heute aufwachsen müssen.
Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker
Weitere Informationen:
„Alphabet“ der Film
Franz Josef Neffe „Die neue Ich kann Schule“